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Südwest-Türkei und Kos / Juli 2004

"Gületphobie" - schon mal gehört?

Der riesige Golf von Gökova, östlich der griechischen Insel Kos, ist wahrhaft ein schönes Segelrevier. Gut 50 Meilen ist der Einschnitt tief, es gibt zahlreiche Inseln, Buchten, sogar einen Strand mit rosa Korallensand (!), den Gerüchten nach seinerzeit eigens von Antonius für seine Geliebte Kleopatra hierher geschafft. Heute tummeln sich dort krebsrote Menschenmengen, die mit aberwitzigen Massen von Gülets herbeigekarrt werden, um sich auch mal in ägyptischem Sand zu wälzen. Abgelegen vielleicht, einsam ist die Gegend sicher nicht. Wir drehen ab.

Fünf Meilen wollten wir heute segeln, eben hierher zu Cleopatra's Insel. Fünf Meilen, ein Stündchen, kaum der Rede wert. Egal, suchen wir uns eben anderswo ein lauschigeres Plätzchen! An der Nordküste des Golfs soll es eine nette Bucht geben. Doch wie das so ist beim Segeln, ein schöner Amwindkurs liegt an, die Nase zeigt in Richtung Südwest, nach Tuzla Köyü, einer anderen hübschen Bucht, und so wird noch einmal umdisponiert. Am Ziel angekommen, haben wir schon mit 20 Meilen auf dem Salzbuckel. Und wir finden keinen Platz. Alles voll mit Gülets. Gülets, Gülets, wohin das Auge blickt. Wir können sie schon nicht mehr sehen. Gületphobie, gibt es das? Wenn, dann habe ich alle Symptome. Halbherzig starten wir einen Ankerversuch an einem Platz "zweiter Wahl", doch der Anker hält nicht und wir finden auch keinen guten Halt für die Landleinen, und eine fette Gület liegt uns auch zu nah. So stöbern wir noch etwas in der Umgegend rum, und drehen dann enttäuscht ab. Wie gewohnt hat der Wind kräftig aufgefrischt, und wie gewohnt hämmert Coco bald bei 6 Beaufort ihren Bug in die gegenan kommenden Wellen. Doch nach einer Weile können wir den Kurs ändern, die Segel öffnen, und mit Rauschefahrt wieder den Sieben Inseln entgegen brausen. Wer aufgepasst hat, kennt den Ort schon aus dem letzten Bericht. Dort gibt es mehrere brauchbare Ankerplätze, doch auch hier: alles voll mit Gülets. Arrgggh! An unserem Platz im East Creek vom letzten Mal ist dann aber zu unserer Überraschung doch noch was frei, und so ankern wir fast an gewohnter Stelle, eine Seltenheit. Ihr wolltet schon immer wissen, wie man aus fünf Meilen fünfunddreißig macht? Jetzt wisst ihr's. Bald darauf kommt auch "Michelle" herein, und bald liegen die beiden Schiffe einträchtig nebeneinander. Zum Abendessen sind wir wieder auf "Michelle" eingeladen. Heute steht Drachenkopf auf der Carte du Jour, ein Fisch der so hässlich aussieht wie sein Name klingt, der aber umso köstlicher schmeckt. Danach der kulinarische Höhepunkt unserer bisherigen Reise, meine Leibspeise: Kirschmichel. Mit Zabaglione, nach einem Geheimrezept von Harry. Kann Segeln schöner sein...??


Ein paar Tage sind vergangen, wir liegen in einer Bucht östlich vor Bodrum, im Windschatten hinter einer Insel, nicht ahnend dass es sich hier um einen echten Insidertipp handelt: In der "Fischerbucht" (36°59,6' N, 027,34,4' E) wird abends am Strand von den Fischern frisch gefangener Fisch auf offenem Holzfeuer gegrillt, fünf Euro das Stück. Dazu gibt es prima Salat und gegrillte Kartoffelscheiben, und natürlich Löwenmilch (Raki). Lecker, und sehr romantisch. Man sitzt direkt am Kiesstrand auf niedrigen, roh gezimmerten Holzbänkchen, praktisch mit dem Hintern im Kies. Nebenbei bemerkt: wir tragen Fleecejacken und lange Hosen. Juli in der Türkei??

"Michelle" verläßt uns für eine Weile, wir trösten uns mit Eis am Stiel, das ein geschäftstüchtiger Türke vom umgebauten Fischerboot aus am Ankerplatz verkauft. In die von "Michelle" hinterlassene Lücke geht währenddessen ein wahrer Ankerkünstler: zwei Stunden Manöver bei null Wind, und schon hat der Mensch "satte" zehn Meter Kette liegen, auf acht Metern Wassertiefe. Dann ist die Landleine zu kurz, doch der Mann weiss sich zu helfen: kurzerhand wird sie unterseeisch befestigt, weiß Gott wo, wahrscheinlich an einer Miesmuschel... Unsere angebotene Unterstützung wird stolz abgelehnt. Uns schaudert.

"Gale Warning", Starkwindwarnung. Seit Tagen schon beginnt so jede Vorhersage. Da kommt uns der sichere Hafen von Bodrum gerade recht. Ein kurzer Schlag, nur etwa zwei Stunden, schönes Segeln. Über Funk melden wir uns beim Hafenmeister an. In der Einfahrt kommt uns ein Marinaboot entgegen, weist uns einen Platz an und hilft beim Anlegen, indem es mit Hilfe seines starken Außenbordmotors unseren Bug gegen den Wind drückt. Sehr bequem. Eine ausgiebige Süßwasserdusche befreit Coco von ihrer Salzkruste. Uns auch.

Bodrum ist eine touristische Hochburg. Entsprechend fehlen auch hier nicht die obligatorischen T-Shirt-, Tand- und Taschen-Läden. Doch alles ist etwas zurückhaltender und gediegener als weiter unten an der türkischen Riviera. Selbst die unvermeidliche Anmache vor den Läden und Restaurants ist erträglich. Herta stürmt die Taschenläden, "fast echte" Louis Vuittons, Todds, Dolce Gabbanas und Diors für einen Bruchteil des Original-Preises, welche Frau kann da schon widerstehen? Ich bin sparsamer und praktischer, kaufe eine neue Plastik-Handangel als Ersatz für die alte, zerbrochene aus Kork. Zerbrochen übrigens leider nicht im Kampf mit einem widerspenstigen Fisch, sondern schlicht unter der Einwirkung der mediterranen Sonne. Mit Melonencocktails, Caipirinhas und südamerikanischer Livemusik begießen wir unsere Neuerwerbungen im Marina Yacht Club.


Eigentlich wollten wir von Bodrum aus zur kleinen griechischen Insel Pserimos, wo unsere Freunde mit der "Michelle" liegen. Doch unterwegs wird's mal wieder ungemütlich, 6 Bft. aus West, soll ich's wirklich sagen, ihr ahnt es doch schon...? -: klar, genau gegenan. Und kühl ist der Wind auch noch, mit warmer Jacke, Kapuze hochgeschlagen, stehe ich am Steuer! Bald drehen wir genervt ab und suchen uns ein weniger anstrengendes Ziel. Direkt nördlich der griechischen Insel Kos ankern wir auf türkischer Seite. In einer Bucht vor schöner Bergkulisse legen wir Coco "auf Türkis". Es pfeift nicht von schlechten Eltern. Auf vier Meter Wassertiefe stecken wir 50 Meter Kette! Wir können's uns leisten, denn außer uns liegt hier niemand. Laut unserem Pilot Book ist die Bucht hier "tranquil", das stellen wir uns ruhig und einsam vor. Doch zwischenzeitlich ist auch diese abgelegene Bucht von einer Clubanlage erschlossen, wie fast jeder Winkel der türkischen Küste. Die Anlage ist eigentlich ganz nett, viel Holz und Palmen, doch leider tagsüber bevölkert von blitzenden Surfsegeln, wilden Jetbikern und Wasserskirennfahrern. Nächtens wird das Ankerliegen versüsst mit Türkpop. Wir legen das mitunter wichtigste Utensil für Segler bereit, klein und gelb und Frieden bringend: Ohropax.

Kurz vor Mitternacht, wir wollen gerade in die Koje kriechen, hört das Bassgewummmer endlich auf, und auch der Wind läßt nach, ziemlich abrupt. Aaah, Ruhe. Doch dann ein Schreck: innerhalb von zehn Minuten Wind von Südost! Südost!? Das gibt's doch gar nicht! Nach Süd und Ost ist unser Ankerplatz meilenweit völlig offen. Ein eiliger Blick in die Karte, wohin können wir ausweichen? Gerade als wir Ernst machen wollen, dreht der Wind zurück auf West. Was war denn das? Wahrscheinlich ein Sog, eine Art Luftholen, keine Ahnung. Egal, die restliche Nacht weht er dann jedenfalls mäßig aus Nordwest, wie es sich gehört.

Der nächste Vormittag überrascht uns wieder einmal mit einer Bandbreite von null bis fünf Beaufort innerhalb von zwei Stunden. Für Pserimos wieder mal schlecht, doch für Kos bedeutet das aber brauchbaren Segelwind. Also gehen wir nach Kos. Dort kaufen wir ein: Seekarten für die nördliche Ägäis, Kleber für's Dingi, Ersatzteile, Lebensmittel; und lassen Wäsche waschen. Abends kommt dann auch die "Michelle" aus Pserimos in den Hafen. Für die beiden ist es der letzte Segeltag bis Herbst, morgen geht es heim nach Deutschland, den deutschen "Sommer" genießen.

Stavros, unser hilfsbereiter Marinero in Kos, meint, was wir hier seit Wochen erleben, das sei kein Meltemi, das sei eindeutig Mistral. Stavros wird's wissen, schließlich war er früher Fischer. Und das wäre eine Erklärung, denn West ist typisch für Mistral; der Meltemi weht ja eher aus Nord. Das Wetter hier ist auch nicht mehr was es mal war...

Wir entscheiden uns bei der Gelegenheit, Coco auf Kos zu überwintern. Die Insel liegt verkehrsgünstig, es gibt Direktflüge auch von Nürnberg, was die höheren Liegeplatzgebühren wieder relativiert. Hinzu kommt, dass Kos inmitten eines der schönsten und abwechslungsreichsten Segelreviere des Mittelmeers liegt. Und - zumindest auf griechischer Seite - gibt es in der gesamten näheren Umgebung keine geeigneten Marinas. Vieles spricht für Kos, also machen wir die Reservierung fix für diesen Herbst.

"Gale Warning", immer noch. Die Meldung wird an Bord gelassen zur Kenntnis genommen, wir haben uns längst daran gewöhnt. Zeitig frühmorgens laufen wir aus, da hat man noch die besten Chancen, ungeduscht zu segeln. Eigentlich wollten wir heute endlich nach Pserimos, aber irgendwie will uns die Insel einfach nicht empfangen. Bei kräftig Gegenwind genau auf die Nase (West = Mistral!?) mit entsprechender unangenehmer Welle gegenan (ich weiß, ich weiß, ich wiederhole mich...) drehen wir ab und legen als neuen Zielort Gümüslük (sprich "Gümüschlük") in der Türkei fest. Gümüslük entpuppt sich als hübsches Örtchen mit einer netten kleinen Ankerbucht. Leider wissen das auch andere, und so müssen wir uns eine Lücke suchen. Gut dass der Wind hier so zuverlässig aus Nord oder West kommt, so hält sich unsere Sorge um einen vollständigen Schwojkreis in Grenzen, und wir finden ein Plätzchen für Coco. Das ist einer der Vorteile der Meltemiregion hier. Dachten wir, wir lägen nun schon eng, so belehren uns später noch zwei französische Yachten eines Besseren. Es geht immer noch etwas enger, dicht neben uns, und dicht vor uns, über unserem Anker natürlich. "Pas de problème", meint der Franzose. Auch gut, wir sind ganz entspannt.


Gümüslük - wir schnüren die Wanderschuhe

In den folgenden Tagen unternehmen wir ausgedehnte Spaziergänge. Einer führt uns zu einer der Neubausiedlungen in der Nachbarschaft, die leider auch hier die wunderschöne Natur verunstalten. Wir wollten das einfach mal aus der Nähe gesehen haben. Glaubt uns, es lohnt sich nicht!


Hässliche Stockzahnbauten wohin das Auge blickt!

Die zweite Wanderung bringt uns zu einem halb verfallenen griechischen Dorf in den Bergen. Die Lage ist äußerst idyllisch. Man versucht offenbar seit Kurzem, den Verfall zu stoppen. Ein paar Häuser sind bereits geschmackvoll restauriert. Der Ort hat Flair, und bietet herrliche Ausblicke. Also auch das gibt es, und das freut uns.

Der Hinweg führte uns an einer mäßig befahrenen Teerstrasse entlang, aber wir haben irgendwo von einem "naturnäheren" Wanderweg gehört. Also fragen wir ein paar junge Leute, die auf einem Grundstück auf Sofas im Garten liegen und einen recht entspannten Eindruck machen. Auf unsere interessierte Frage, ob das hier eine Pension oder sowas sei, erfahren wir, nein, das hier sei ein "Meditation Camp". Aha! Die Wegbeschreibung der Erleuchtung Suchenden lautet denn sinngemäss für uns: "Immer dem Verlauf des Bächleins folgen, so wie das Wasser den Hang hinab fliessen würde." ... Das tun wir dann auch, und so schlecht war die Beschreibung gar nicht. Schließlich kommen wir - nach einigen Um- und Rückwegen, und malerisch verziert mit Schürf- und Kratzwunden - tatsächlich in der Nähe unseres Ausgangspunktes an. Interessant war dieser wahrlich "naturnahe" Rückweg allemal.



Wanderung ins ehemals griechische Bergdorf Karakaya

Zurück an Bord diskutieren wir über unsere Erlebnisse und Eindrücke aus diesem Land. Viel hat sich verändert, seit wir vor etwa fünfzehn Jahren zum ersten Mal hier waren. Die von uns damals in der Türkei erlebte, selbstlose Freundlichkeit ist einer oft aufdringlichen Geschäftigkeit gewichen. Die Preise sind, von Ausnahmen abgesehen, auf nordeuropäischem Niveau angelangt. Als äusserst traurig empfinden wir die Zerstörung ganzer Landstriche durch den Bauwahn der neunziger Jahre. Die schönsten Küstenstriche sind ihm zum Opfer fallen. Rund um Bodrum, im Gökova Golf, entlang der Westküste, überall schießen Retortenprojekte aus dem Boden. Meilenweit verunzieren uniforme Siedlungen, Stockzähnen gleich, die Küstenlinien, potthäßlich aus der Ferne, eintönig aus der Nähe. Wer soll hier wohnen? Die meisten dieser gigantischen Projekte sind völlig schmucklos und stehen leer. Oder sind sie alle nur ein paar Ferienwochen im Jahr bewohnt? Wir wissen es nicht.

Auf der Habenseite verbucht die Türkei einige der schönsten Segelreviere, Buchten und Ankerplätze des Mittelmeers. Die Marinas sind gut ausgebaut und gepflegt. Die Hilfsbereitschaft ist ausgeprägter als bei den griechischen Nachbarn, allerdings wird dafür meist im Nachhinein ein Obulus gefordert. Schließlich bieten die Märkte der Türkei nach unserer Erfahrung eindeutig das frischere Obst und knackigere Gemüse, und insbesondere Fisch wird hier meist wesentlich schmackhafter zubereitet als drüben in Griechenland. (Man hat halt so seine Prioritäten.)


Türkische Küche vom Feinsten


Ein riesiger Oktopus wird weich geklopft

Wind 15 bis 18 Knoten Nordwest. Der wahre Wind fällt aus etwa 55 bis 60°von Steuerbord ein. Alles passt. Die Segel sind dichtgeholt, wir segeln hart am Wind, auf Backbordbug. Wegerecht! Zu deutsch "Vorfahrt". Doch nützt es uns heute nichts, außer uns ist weit und breit kein Segler zu sehen. Wir kreuzen der Nordküste des Golfs von Güllük entgegen. So langsam lassen wir die südlichen, überfüllten Reviere hinter uns.

So wie heute müßte Segeln immer sein. Was ist es nur, was am Segeln so fasziniert, dass ein einziger schöner Segeltag fünf schlechte Tage vergessen läßt? Ist es das unmittelbare Erleben der Natur? Der Reichtum an Erlebnissen? Der Lebensstil? Die Freiheit, von der jeder träumt? Von allem etwas, nehme ich an. Und nicht zuletzt "das exquisite Vergnügen, nicht den Gesetzen kontinuierlicher Beständigkeit ausgeliefert zu sein". (Ich geb's ungern zu, aber dieser schöne Satz stammt leider nicht von mir, sondern aus der Feder des amerikanischen Schriftstellers Irwin Shaw, und er war eigentlich nicht auf's Segeln gemünzt, paßt dafür aber ausgezeichnet.)

Doch ich schweife ab mit unseren minimalphilosophischen Fragen. Wir nähern uns also der nördlichen Küste des Güllük Golfs, und damit der Heimat des Menschen, der heute als erster großer abendländischer "Philosoph" bekannt ist, Thales von Milet.

Zunächst steuern wir den Ankerplatz vor Altinkum an, doch der Wind dreht, und da wir heute segeln wollen und nicht motoren, suchen wir uns aus dem dicken Pilot Book einen anderen, geeigneten Ankerplatz. Bei mittlerweile recht frischem Gegenwind und weißen Schaumkrönchen rundum (13 Uhr, man kann wirklich die Uhr danach stellen!), laufen wir in die Bucht Talianaki im Meerbusen von Kuruerik an. Gewissermaßen eine Art "Dreifachbucht", perfekt geschützt. Wir wundern uns: rundum Ferienhäuser im Einheitslook, alles noch einen Tick häßlicher und "billiger" als sonst. Ich nenne sie spontan "Ostblock Sozialbauten". Später beim Landgang stellt sich dann heraus, es handelt sich tatsächlich um eine Art Sozialanlage. Außer den einfach zusammengezimmerten Häuschen gibt es wohl einen Campingplatz und zwei "Casinos", die tags als Essgelegenheit dienen und nachts als Disco. Grelle Neonbeleuchtung, eine Spiegelkugel über den Tischen, fertig ist die Türkpopdisco!

Kein anderes Segelboot liegt hier, kein Wunder, die Umgebung ist wahrlich kein optischer Leckerbissen. Doch das ist uns heute egal, für uns ist wichtiger, dass Coco hier absolut sicher liegt. Denn wir wollen einen Wagen mieten und uns die Gegend ansehen. Mit Händen und Füssen fragen wir uns durch und landen schließlich beim Manager der Anlage, der gerade mit Freunden beim Tee sitzt und plauscht. Ihm machen wir radebrechend unser Anliegen klar. Gut, dass "Auto" auf Türkisch "Oto" heißt. So fährt uns alsbald ein freundlicher Mensch im nagelneuen, klimatisierten Mercedes mit Ledersitzen nach Altinkum, wo wir Autovermietungen finden sollen. Nach der Zehnminutenfahrt mit dezibelstarker Türkpopuntermalung sind wir um 20 Euro (!) ärmer, und um eine Erfahrung reicher: Sozialcamping bedeutet hier nicht unbedingt, in Kleinwägen herumfahren zu müssen.

Über Altinkum will ich schonend den Mantel des Schweigens ausbreiten. In kurzen Worten: Ballermann brutal auf englisch. Rot ist hier die angesagte Farbe: rot verbrannte Bierbäuche schwappen über zu engen Badehosen, zu knappe Minis bedecken kaum die in allen Rottönen schwellenden Pfundsschenkel, halb gar geröstete Kleinkinder plärren sich die Seele aus dem Leib. Ein Gruselkabinett. Nach etwas Hin und Her finden wir einen alten Fiat zur Miete, mit gebrochener Frontscheibe, für 25 englische Pfund. Kein Mensch rechnet hier in türkischer Lira.

Wir fahren zu unserer Bucht, parken den Wagen am Ufer und erholen uns an Bord, lesend und schreibend.

Um ein Uhr nachts fahre ich hoch aus tiefstem Schlaf! Dicht an Coco vorbei läuft eine Gület in die Bucht ein und ankert dann in knapp hundert Metern Entfernung. Geschätzte fünfzig, definitiv schwer alkoholgeschädigte, schreiende und kreischende Gäste tanzen an Deck zu Brutalo-Türkpop in Openairlautstärke, eine farbenprächtige Laserlightshow taucht dazu die Umwelt in gespenstische Atmosphäre. Nach wenigen Minuten sind an Land alle Lichter an, die gesamten Anwohner der Bucht dürften wach sein. So ähnlich muss das früher bei Piratenüberfällen gewesen sein! Wir trösten uns mit dem Gedanken, dass diese Lärmverbrecher hier zwar womöglich nicht ganz zurechnungsfähig, aber doch ansonsten eher harmlos sind. Nach einer halben Stunde steht dann auch ein Polizeiwagen hilflos blaulichtblinkend am Ufer, die Gület geht ankerauf, dreht ab, der Spuk ist vorbei.

Und das Krankheitsbild "Gületphobie" gibt es doch!


Das Orakel von Didyma


Das gewaltige Theater von Milet

Mit dem Wagen besuchen wir die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Gegend. Der Geschichtshunger wird befriedigt durch einen Besuch des Orakels von Didyma und die beeindruckenden Überreste des antiken Milet. Hier lebte und wirkte vor zweieinhalb Jahrtausenden der oben erwähnte Thales. Das größte Erlebnis für uns aber sind die Störche! Auf dem Kuppeldach einer byzantinischen Moschee nahe beim Theater von Milet haben sie ihr Nest gebaut. Weithin sichtbar, bietet das Storchennest gleich einer Kleinfamilie der seltenen Geburtshelfer ein Zuhause. Wann haben wir zum letzten Mal Störche gesehen, lebend, fliegend und wahrhaftig klappernd...!?


Eine Klapperstorchfamilie nistet auf dem Dach einer alten Moschee!


Den Hunger nach Landschaftserlebnis wollen wir sodann mit einem Abstecher zum Bafa-See stillen. Zugegeben, der Bafa Gölü war sowieso das eigentliche Ziel des heutigen Ausfluges. Unser Reiseführer schreibt von wunderbarem, grünen Wasser in herrlicher Landschaft, und für sowas sind wir immer sehr empfänglich. Doch zunächst sind wir enttäuscht. Eine gut ausgebaute, breite Hauptverkehrsstrasse führt direkt an der Südseite des Sees entlang, der hier, abgesehen von den kilometerweiten Olivenhainen, eher öd und trostlos wirkt. Nach einer Abzweigung gelangen wir auf die andere Seite. Hier sieht die Sache schon anders aus. Die Vegetation ist grüner, die Landschaft bizarr. Es sieht aus, als hätte man die Bergmassive mit einer gewaltigen Sprengladung in die Luft gejagt. Riesige Granitbrocken türmen sich in Schwindel erregenden Höhen. Wir parken unseren Wagen dort, wo die Strasse endet, bei den malerischen Ruinen des antiken Herakleion. In einem kleinen Lokal trinken wir Tee und rüsten uns mental für die bevorstehende Wanderung. Der Wirt zeigt uns ein Fotoalbum der wirklich sehr beeindruckenden Umgebung, sogar mit deutschen Texten!


Granitlandschaft am Bafa Gölü


Reste des antiken Herakleion


Esel sind auch hier ein bewährtes Transportmittel

Unsere eigene Wanderung führt uns dann - natürlich zur besten Mittagszeit in glühender Sonne - am Nordufer des Sees entlang. Muss man eigentlich Deutscher sein, um solche blödsinnigen Strapazen auf sich zu nehmen?! Dennoch, die Gegend ist es wert, zu Fuss erkundet zu werden; mögliche Nachahmer müssen es ja nicht unbedingt mittags tun... Nach einer guten Stunde und einem geschätzten körperlichen Wasserverlust von 97 Prozent (trotz mitgeschlepptem Trinkwasser), sehen wir in der Ferne einen schneeweißen Strand. Sieht aus wie aus der Tourismuswerbung. Beim Näherkommen sehen wir, nicht nur der Strand ist weiß, auch die kümmerlichen Reste der hiesigen Vegetation sind in der gnadenlosen Sonne längst weiß wie Kalk. Auch ausgebleichte Knochen finden wir, von Tieren...

Der Bafa See war übrigens nicht immer ein See. Im klassischen Altertum, zu Zeiten von Odysseus, war dies hier noch ein Seitenarm der Ägäis. Durch Verlandung wurde er im Laufe der Jahrhunderte abgetrennt, und so ist es heute eine recht seltsame Erscheinung, ein Brackwasser-Binnensee.


"Strand"-Wanderung am Bafa Gölü



Schatten? Ein Fremdwort! Das flache Wasser hat hier fast Außentemperatur, und - es müffelt. Hier und da treibt grünlicher Algenschleim. Trotzdem, in unserem ausgedörrten Zustand können wir uns diese Gelegenheit einer Erfrischung nicht entgehen lassen, und so reißen wir uns die Klamotten vom Leib, halten uns die Nasen zu und nix wie rein in die glitschige Pampe! Igittigitt.

Nach ein paar Minuten sind wir denn auch wieder draußen. Zumindest unsere Körpertemperatur ist jetzt wieder in normalen Regionen. Der einzige Felsen in der Gegend spendet einen viertel Quadratmeter Schatten, und den teilen wir uns brüderlich. Doch irgendwann muss man auch den schönsten Ort wieder verlassen, und so machen wir uns auf den Rückweg. Am Ende haben wir in drei Stunden drei Liter Wasser konsumiert, keine schlechte Leistung!

Am Abend, zurück an Bord, halbwegs erholt, frisch geduscht und nach einem gepflegten Sundowner, werten wir unsere Fotos aus, ich schreibe Reisebericht, Herta schreibt e-Mails. Bordroutine. Morgen soll es weitergehen, mal wieder nach Griechenland: die schönen Inseln der östlichen Sporaden liegen sehr verkehrsgünstig...


Herta bearbeitet ihre e-Mails



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