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Sizilien / September 2001

Kulturschock

29. August, 0700 frühmorgens. Im Morgendunst schält sich am Horizont die Silhouette der Insel Marettima heraus. Nach und nach nimmt die westlichste der egadischen Inseln Konturen an. Nach sechsundzwanzig Stunden haben wir unser Ziel auf den Punkt erreicht. Coco schwimmt in sizilianischen Gewässern!


Isola Marettima voraus!


Vor Anker nach der langen Überfahrt

Gleich in der ersten Bucht gehen wir an eine der dort ausliegenden, nagelneuen Bojen. An Schlaf ist nicht zu denken. Das Wasser ist herrlich klar, wir holen das Schnorchelequipment aus der Backskiste und stürzen uns hinein in die sizilianischen Fluten. Gleich machen wir eine Entdeckung, die sich in der nächsten Zeit noch oft bestätigen soll: hier ankert man nicht bequem auf 3 bis 4 Metern Wassertiefe; man darf sich schon glücklich schätzen, wenn es "nur" 8 oder 10 Meter sind, gerne auch mehr. Die Inseln hier sind eben vulkanischen Ursprungs und ragen dementsprechend steil und unvermittelt aus der felsigen Tiefe auf. Demzufolge finden wir auch jetzt keinen sicheren Ankerplatz in der Nähe, an dem wir vor Schwell geschützt wären. So segeln wir am späten Nachmittag weiter zu unserem ersten Ziel auf Sizilien, nach Trapani.

Nach der herrlichen Natur und der Herzlichkeit der Sarden erleben wir hier zunächst einen wahrhaften Kulturschock: dreckige Gassen, Lärm, Schmutz, überwältigender Gestank, Verfall allerorten, die Gesichter erscheinen uns verschlossen. Wir glauben sogleich, die Vorurteile der Norditaliener gegen das Mezzogiorno, den tiefen Süden, verstehen zu können. Unser erster Eindruck ist jedenfalls niederschmetternd. Erschwerend kommt hinzu, daß hier offenbar gar nicht das uns bekannte Italienisch gesprochen wird...! Zumindest ist das hiesige Idiom für uns, die wir uns nach zwei Monaten Sardinien schon vermeintlich recht gut verständigen konnten, nahezu unverständlich. Zwischen all den kehligen Gurgellauten vermeint man zwar, hin und wieder ein bekanntes italienisches Wort herauszuhören, doch klingt die Sprache oft eher wie Arabisch. Überhaupt, der nordafrikanische Einfluß läßt sich nicht leugnen. Eine der besonderen kulinarischen Spezialitäten Nordwestsiziliens ist Couscous.


Die Kulisse von Trapani im Abendlicht


Im Fischerviertel von Trapani

Der Reichtum an Kulturschätzen ist die andere Seite. Es gibt wohl wenige Orte am Mittelmeer, wo über die Jahrtausende die unterschiedlichsten Kulturen eine derartige Vielfalt bemerkenswerter Kulturgüter und Bauwerke hinterlassen haben. Für die geschichtlich Interessierten hier ein Auszug der früheren Besucher aus unserem Reiseführer: Karthager, Griechen, Römer, Germanen, Wandalen, Byzantiner, Araber, Sarazenen, Normannen, Aragonesen, Bourbonen...

Fast eine Woche liegt Coco in der Marina direkt gegenüber dem nordafrikanisch anmutenden Fischerviertel. Wir versuchen uns zu aklimatisieren. Trapani war in der Antike als Hafenstadt gebaut worden und lebte über Jahrhunderte von den Werften, vom Tunfischfang und von der Salzgewinnung auf den nahe gelegenen Salinenfeldern. Auch heute noch sind diese Industrien, mit Ausnahme des Salzes, wesentliche Säulen des sizilianischen Wohlstands. Außerdem ist Trapani touristischer Ausgangspunkt zu den egadischen Inseln sowie nach Pantelleria und Lampedusa.


Wrack eines Fischerkahns in Trapani

Selbstverständlich steht auch Erice auf unserem Besuchsprogramm. Der alte Ort liegt auf einem Berg hoch über Trapani und hat sein mittelalterliches Stadtbild fast vollständig bewahrt. Mit dem öffentlichen Bus geht es in halsbrecherischer Fahrt die engen Serpentinen hinauf. Glücklich oben angekommen, bewundern wir die uralten, dicken Stadtmauern, die grau gepflasterten Gäßchen, die grauen Steinhäuser. Erice ist ein Augenschmaus, ganz in Grau. Überragt wird das Stadtbild von der gut erhaltenen Normannenburg gewaltigen Ausmaßes. Und es ist kühl hier oben. Auch deshalb ein lohnender Ausflug!



Im alten Bergort Erice

Nach ein paar Tagen mit Wolken, Windböen und Regenschauern geht unsere Reise weiter. San Vito lo Capo heißt diesmal unser Ziel. Wir motoren bei fast null Wind; der Wind der letzten Zeit hat allerdings eine eklige Dünung aufgebaut, die mir die fünfundzwanzig Seemeilen so ziemlich vergällt. Ich schlucke mal wieder mein altbewährtes Stutgeron, und so ertrage ich die vier Motorstunden einigermaßen mit Anstand. Der Hafen von San Vito empfängt uns mit sauberem, klarem Wasser: wieder einmal liegen heute Frust und Freude des Segelns nahe beieinander.


Capo San Vito

Sofort fällt ins Auge, dass der Ort voll auf Tourismus eingestellt ist. Plastikstühle, Eisdielen, dunkelhäutige Straßenhändler. Erstaunt stellen wir fest, daß es keine Verbindung zum doch so nahe gelegenen Zingaro Nationalpark gibt, wo wir eine Wandertour machen wollen. Kein Bus, kein Taxi, kein Mietwagen, niente. Schade. Wir verwerfen den Gedanken hin zu radeln, weil wir danach wohl kaum noch zu anstrengenden Bergwanderungen fähig wären. Also segeln wir weiter am nächsten Tag nach Castellamare, vielleicht gibt's von dort aus bessere Verbindungen? Doch als wir ankommen, finden wir einen mit Motor-, Schlauch- und Fischerbooten vollgestopften Hafen vor, kein einziger Platz ist frei. Wir unternehmen einen halbherzigen Ankerversuch hinter dem Wellenbrecher, doch der Grund hält schlecht. In Anbetracht der 7 Windstärken, die wieder mal für heute Nacht und morgen angesagt sind, ist uns das zu unsicher.

Also suchen wir in den Seekarten nach Alternativen. Finden aber keine. Weit und breit kein vernünftiger Ankerplatz, der gegen den vorhergesagten Wind auch nur halbwegs geschützt ist. Und die nächste brauchbare Marina ist rund dreißig meilen weit entfernt, bei Palermo! Tja, dann bleibt wohl nichts übrig als nochmal zurück nach San Vito. So was hatten wir auch noch nicht!

Irgendwo in einem Reiseführer haben wir gelesen, Sizilien sei ein Paradies für Segler. Doch wo sind sie, die geschützten Ankerplätze mit klarem Wasser, die Marinas mit den netten Bars und Trattorias, die für uns Segler doch das Paradies ausmachen..? Fehlanzeige! Die Suche nach Ankerplätzen und Häfen entwickelt sich oft zu einem Problem. Entweder gibt es auf langen Streckenabschnitten gar keine, oder sie sind mit lokalen Fischerbooten oder mit Schlauchbooten belegt, oder zu flach oder es wird gebaut. Das hier sind eben doch nicht die bequemen Balearen!

Am Abend in San Vito, nach einem guten Abendessen in einer winzigen Hinterhoftrattoria mit nur einem einzigen Menü - keine Speisekarte - nehmen wir noch einen Absacker in einer der häßlichen Plastiktouristenbars am Strand. Irgendwann greift sich der Wirt die Gitarre, setzt sich zwischen die Gäste und schmettert die schönsten italienischen Schnulzen. Herzerweichend. Einige weibliche Gäste singen mit, zu unserem Erstaunen sogar ausgezeichnet und mit viel Sentimento. Nach drei Amari und ebensovielen caffès brechen wir weit nach Mitternacht auf mit dem Eindruck, heute etwas vom echten sizilianischen Lebensgefühl erlebt zu haben.

Bei pfeifendem Wind und kräftigen Böen basteln wir uns einen Plan für die letzten Wochen dieses Törns: Palermo ist ein absolutes Muss, dorthin wollen wir auf jeden Fall noch. Dann noch in die mittelalterliche stadt Cefalu, und vielleicht noch zu einer der nördlich gelegenen liparischen Inseln. Am Rückweg nach Trapani vielleicht nochmal ein Abstecher zu den egadischen Inseln. Und auf jeden Fall wollen wir zum Abschluss noch einen Wagen mieten und für einige Tage das Inselinnere erkunden. Mehr ist nicht mehr zu schaffen.

Also dann auf nach Palermo. Der Wind hat abgeflaut, wir werfen die Leinen los. Draußen empfängt uns eine Mordswelle, langgezogen und bestimmt zwei bis drei Meter hoch. Der Meeresgrund steigt hier erst kurz vor der Küste sehr steil an und erzeugt so eine unangenehme Kreuzsee. Wieder ein Stutgeron-Tag.


Kräne beherrschen den Hafen von Palermo

Nach fünf Stunden elendem Rumgehaue laufen wir erschöpft ein in den Handelshafen von Palermo. Ein rostiger Seelenverkäufer aus irgendeinem obskuren Land hat am Wellenbrecher festgemacht, zwei riesige Frachter liegen in Trockendocks, Kräne überragen wie erstarrte Riesenvögel die Szenerie. Wir wollen nicht in die moderne und teure Sportbootmarina draußen vor der Stadt, sondern in den Porto Commerciale, wo es hinten im Hafenbecken Anlegemöglichkeiten für Yachten geben soll. Ein ausgesprochen freundlicher marinero verschafft uns auf Zuruf tatsächlich noch einen Liegeplatz in einer eigentlich viel zu engen Box, wir sind in Sizilien, da geht's immer noch irgendwie. Super, nun liegen wir direkt in der Altstadt! Das soll zwar nur für zwei Nächte möglich sein, danach sei der Platz reserviert, aber nach unseren bisherigen Erfahrungen lautet die Devise: "wer liegt der liegt". Warten wir's einfach ab.

Am Abend machen wir uns auf zur Erkundungstour. Mit zwiespältigen Gefühlen, wer hat nicht schon von Palermos hoher Kriminalität gehört? Wir erinnern uns an den Rat des Marineros und verschließen beim Verlassen sorgfältig das Stahltor zur Pier. Sogleich begrüßt uns eine verfallende - aber bewohnte - Häuserzeile. Dieser erste Eindruck des Verfalls der einstmals sicher wunderschönen, mittelalterlichen Stadt wird uns die folgenden Tage auf Schritt und Tritt begleiten. Ringsum sieht es aus, als sei gestern der Krieg zu Ende gegangen. Die ehemals herrlichen Häuser sind teilweise nur noch Ruinen, ausgebrannte Fensterlöcher starren uns entgegen, Schutt liegt herum. Sehen wir da etwa Einschußlöcher an den Fassaden?? Wunderbare Bausubstanz ist unrettbar dem Zerfall preisgegeben. Wenige Generationen nach uns werden das nicht mehr erleben können.



Palermo bei Tag und Nacht

Doch zwischen Ruinen und Bauschutt, Abfällen und Baugerüsten brodelt das Leben. Der berühmt-berüchtigte Vucciria-Markt ist ein faszinierendes Kaleidoskop von Sinneseindrücken. Die finsteren Gassen, die in Deutschland wegen unmittelbarer Einsturzgefahr gesperrt wären, sind voller Leben. Gemüsestände, Schnapsläden, Fleischereien, Backwarenhändler, Süßwarenverkäufer, Zigarettenläden, alles drängt sich dicht an dicht. Halbwüchsige Vespapiloten brausen in den engen Pflastergassen halsbrecherisch vorbei an aufgetürmten Olivenbergen und meterlangen (!), an die Wand gelehnten Zucchinifrüchten. Es ist ein Fest für Augen und Ohren. Und immer die Tasche wachsam umklammert halten!


Viele Kirchenbauten sind orientalisch geprägt

Die Altstadt ist nach arabischem Muster angelegt, die Gassen verlaufen ohne erkennbares System kreuz und quer, damit sich ungebetene Eindringlinge schwer zurechtfinden. Es ist Nacht geworden, und wir irren im wahrsten Sinn des Wortes durch ein dunkles Labyrinth. Zwischendurch tun sich erstaunliche Anblicke auf, mal finden wir uns auf einem beleuchteten Platz wieder, wo offenbar unterbrochene Ausgrabungen einer ungewissen Zukunft harren, mal vor einer heruntergekommenen Kirchenfassade, mal vor einem prunkvollem Palazzo, mal vor einer Straßenbar, vor der sich lärmende Gestalten auf laufenden Vespas schreiend miteinander verständigen. Um die Beklemmung zu vertreiben, sprechen wir hin und wieder mal eine der dunklen Figuren an und fragen nach dem Weg, und siehe da, wir erhalten meist freundlich Auskunft. Alles halb so wild.


Die Kathedrale von Palermo


Beim Privatfriseur

7. September. Hochzeitstag! Unser elfter!! Das muß angemessen gefeiert werden. Doch zuerst nimmt sich die geliebte Göttergattin meine Lockenpracht vor, die seit drei Monaten ungehindert spriest. Bald ist das Coco's Deck übersät mit Haarschnipseln; vereinzelt entdecke ich auch die eine oder andere graue Strähne... Na egal, bestimmt vierzig Mark gespart, die hauen wir heute abend auf den Putz! Wir wollen in einem Ristorante feiern, das laut Führer in einem herrlichen alten Palazzo aus dem siebzehnten Jahrhundert untergebracht ist und als ein "Hort der Ruhe im Großstadtlärm" gelobt wird. Auch sei "die Qualität der Gerichte der Atmosphäre ebenbürtig". Na wenn das nicht genau wie für uns gemacht ist!? Die frische Frisur noch mit Gel aufgepeppt, und schon sehen wir aus wie zwei Einheimische. Wir ziehen los, und bald haben wir das Lokal gefunden. Doch leider wird der Palazzo zurzeit renoviert. Das Ristorante ist aber geöffnet, allerdings nur im Außenbereich. Wenn da nur nicht die dunklen Regenwolken über uns wären! Aber wie sagt doch der Kellner: "in Palermo hat es seit Monaten nicht geregnet, ecco..." Na gut. Das Ambiente im Innenhof ist durchaus erinnerungswürdig: zwischen Zementmischmaschine und Baugerüst, Wasserschläuchen und Bretterverschalung begehen wir unseren Feiertag in einem der Toprestaurants der City. Selbstredend erwischt uns schließlich doch noch ein kurzer Schauer, die Gäste stürzen von den Tischen in den Schutz der überdachten Einfahrt, und wir erleben echte südländische Krisenbewältigung! Unvergeßlich!


Eindrücke


Wasserlilien im Botanischen Garten

Zu Fuss und per Bus besuchen wir noch zahlreiche Sehenswürdigkeiten und entdecken so ganz nebenbei auch noch das moderne Palermo: eine mittlere Großstadt wie viele andere, nicht weiter erwähnenswert. Den mit Abstand stärksten Eindruck hinterläßt bei uns eindeutig das Altstadtviertel. Etwas Vergleichbares haben wir noch nicht gesehen. Schönheit und Häßlichkeit, Leben und Morbidität, Licht und Schatten liegen hier im Wortsinn unmittelbar beieinander.

Unser Tipp für zukünftige Palermo-Besucher: Startet euren Besuch unbedingt in der Altstadt, und nehmt euch dafür mindestens zwei Tage Zeit. Schaut euch erst danach den Rest Palermos an. Der Eindruck ist garantiert ein völlig anderer als wenn man sich von außen nach innen "arbeitet".


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